Mein pädagogisches Konzept

Mein pädagogisches Konzept besteht aus mehreren wichtigen Schwerpunkten:

  1. Stimmphysiologie und das Erlernen einer sicheren Gesangstechnik
    Um Gesangstechnik, Stilistik sowie Persönlichkeit in dieser kurzen Zeit in Einklang zu bringen, muss der Lehrer mit großer Aufmerksamkeit auf jeden Studierenden individuell eingehen und einen maßgeschneiderten Plan festlegen - insbesondere für die StudentInnen des Bachelorstudiums. Für alle Studierenden gilt es aber, zuerst die Grundlagen der Technik zu erlernen, erst dann kann an der Stilistik im geforderten Repertoire gearbeitet werden.

  2. Das Atmen
    Die Atmung ist die Energiequelle für die Stimmgebung (Phonation). Beim Sprechen oder Singen arbeiten verschiedene Muskelgruppen und Organe zusammen. Deren Koordination stellt eine wesentliche Aufgabe dar. Sprechen und Singen sind also eine Synthese der Atmung, Stimmgebung und Artikulation. Das gute Atmen beim Singen ist auch von der Körperhaltung abhängig. Diese hat nicht nur großen Einfluss auf den Atemapparat an sich, sondern auch auf Zwerchfell, Kehlkopf, Halsmuskeln, sogar auf die Muskulatur des Gesichts und die Weite der Nasenhöhlen.

    Beim Einatmen weitet sich durch Einsetzen der Zwerchfellmuskulatur sowie der äußeren Zwischenrippenmuskulatur der Brustkorb. Das Zwerchfell wird nach unten gedrückt und die Bauchdecke wölbt sich aus. Die Atmung sollte beim Üben immer durch die Nase erfolgen, die die Luft filtert, befeuchtet und erwärmt. Wenn die Ruhe fehlt und der Sänger gezwungen ist, nach Luft zu schnappen, kann das Einatmen auch mithilfe einer Weitstellung (Gähnen) durch Mund und Rachenraum erfolgen. Diese schnelle Art Luft zu holen nennen die Italiener mezzorespiro.

    Beim Ausatmen werden durch den Druck unter der Glottis – auch subglottaler Druck genannt – die Stimmbänder auseinander geblasen und in Schwingung versetzt. Die aus der Lunge fließende Atemluft versetzt die Stimmlippen während der Stimmgebung (Phonation) in Schwingung. Dadurch entsteht der primäre Kehlkopfton, der dann durch verschiedene Resonanzräume verändert zu Sprach- und Singlauten geformt wird. Das Trainieren des langsamen Ausatmens während des Singens, sowie der sparsame Umgang mit der Luft sind unverzichtbar.

    Es ist umstritten, welche Bedeutung das Erlernen eines guten Atmens hat. Das Erlernen des „gestützten Tones“ ist eine Entwicklung, während der das Anhalten des Ausatmungsprozesses eine tragende Rolle spielt. „Auf dem Atem singen“ ist leichter gesagt als getan, wenn die Atemmuskulatur einen Sänger im Stich lässt. Hierfür ist eine sehr gute körperliche Fitness notwendig, die ich von meinen Studentinnen ausnahmslos einfordere, da der Stimmbildungsprozess sehr von körperlicher Stärke und Atemschulung abhängt. Die Arbeit an einer gut funktionierenden „Atem-Stimm-Kopplung muss allerdings in kleinen Stufen kontinuierlich und parallel zur Stimmfunktionenentwicklung erfolgen.“ (Pezenburg, Michael: Stimmbildung; Wißner; 2007)

  3. Ausgleich der Register
    Ich vertrete die Meinung, dass jeder Mensch zwei Register besitzt, Brust- und Kopfregister. Die Ausnahme stellen hierbei die Koloratursoprane dar, die ein zusätzliches Pfeifregister besitzen, welches es zu stärken gilt. Das sogenannte Mittelregister bezeichne ich als Mittellage, eine Reihe von Tönen, die sehr bequem in der Nähe der Sprechlage liegen (ausgenommen sehr tief sprechende Bässe oder sehr hoch sprechende Soprane). Diese Töne nehme ich jedoch nicht als eigenes Register wahr. Brust- und Kopfregister verbindet eine Reihe von Tönen, die Übergang oder Passaggio genannt werden. Es gilt sie anzugleichen, sodass der Zuhörer keinen Bruch wahrnehmen kann. Von Natur aus ist ein Register stärker als das andere. Das schwächere Register sollte man durch Übungen stärken, sodass beide im Passaggio ineinander verschmelzen. Dies muss immer von oben nach unten passieren, nie andersherum, denn dann zieht man die Last des Brustregisters hoch, was wiederum zu Schwere und Unflexibilität führt. Dafür muss der Lehrer viel Zeit einplanen.

    Parallel dazu sollte man an der Vergrößerung des Stimmumfanges in beide Richtungen arbeiten. In den meisten Fällen gelingt dies unproblematisch. Das Ziel ist also, eine künstlerisch einsatzfähige Sängerstimme auszubilden, die sich durch den gesamten Stimmumfang eines ausgeglichenen Klangkörpers auszeichnet. Diese Ausgeglichenheit betrifft auch die Dynamik, die in allen Bereichen im Piano und auch im Forte beherrscht werden muss. Sehr wichtig ist hier sowohl die Funktion messa di voce, die bedeutendste Verzierung der Alten italienischen Meister, als auch die des Belcanto, also das Crescendieren und Decrescendieren langer Noten in allen Lagen. Das leichte Ansetzen des Brustregisters gibt dem Sängerklang Leichtigkeit, das Crescendieren des Kopftones stärkt ihn und verleiht ihm mehr und mehr Kraft. Man stellt dann fest, dass in der Voix mixte mehrere Töne (meistens eine Quarte oder Quinte) so ausgeglichen sind, dass man sie kaum noch voneinander unterscheiden kann.

  4. Ausgleich der Vokale
    Vokale sind Hauptträger des Stimmklanges. Ihr Ausgleich führt zu einer Steigerung des Stimmvolumens, des Stimmumfanges und sogar zur Verbesserung der Intonation. Die verschiedenen Vokale haben unterschiedliche Charakteristika. Der Vokal „i“ besitzt viel Helligkeit und bringt die Stimme in einen Vordersitz, das „u“ erzeugt Weichheit, Kopfigkeit und Rundung, und das „a“ sorgt für die Weite. Diese Charakteristika der Vokale sollten von ihren Stärken etwas an die anderen abgeben, sodass alle Vokale der jeweiligen gesungenen Sprache rund, weich, vorne und möglichst im gleich offenen Rachenraum entstehen können. Hierbei spielen die Funktion der Zunge, die Stellung des Kehlkopfes, der Lippen und des Unterkiefers eine wichtige Rolle.

    In meiner Pädagogik versuche ich den Begriff des „Deckens“ nicht zu benutzen, denn oft wird dieser von den Studierenden falsch interpretiert und führt zu Irritationen. Stattdessen benutze ich den Begriff der „Modifikation“. Die Reinheit und Klarheit der Vokale verbinde ich immer mit der Tonhöhe. Diese entscheidet, wie sehr der gesungene Vokal modifiziert wird. Je höher der gesungene Ton liegt, desto mehr suche ich nach dessen Rundung und Weichheit. Kleine Unterschiede gibt es jedoch zwischen den Frauen- und den Männerstimmen. Das, was bei den Damen noch mit gewisser Offenheit (vor allem in der dritten Oktave) funktioniert, wird bei den Herren oft zu Problemen in der Höhe führen. Davon ausgenommen sind nur die sogenannte italienische Tenorstimme und die Stimme des dramatischen Tenors.

  5. Bewusst eingesetzte Vibrato-Funktion
    Die Vibrato-Funktion der menschlichen Stimme scheint als etwas sehr Natürliches, ist aber ein Phänomen, von dem in Musiktraktaten wenig zu finden ist. In den letzten 150 Jahren können wir eine große Entwicklung der Klangmöglichkeiten feststellen. Es entstanden fantastische Kompositionen, und die Lautstärke gewann an Bedeutung. Das alles hatte aber katastrophale Auswirkungen auf die Art zu Singen und die Belastung des Stimmorganes. Es starb somit nicht nur der Canto Fiorito, sondern auch der Belcanto. Ein Sänger wurde immer mehr am "Hohen C" und seiner Stimmkraft bemessen. Die Vibrato-Funktion entgleiste. Jede Note wurde tremoliert, messa di voce geriet in Vergessenheit. Ein möglichst großes und hörbares Vibrato herrschte bis zur Wiedergeburt der Alten Musik. Viele Dirigenten begannen nun nach neuen Klangidealen zu suchen. Die Funktionen Terzvibrato, Tremolo, vibrato naturale und non vibrato wurden erkannt und wieder offen diskutiert.

    Für mich steht allerdings fest, dass das Vibrato naturale sehr wichtig und unverzichtbar ist in der Ausbildung einer gesunden und gut funktionierenden Sängerstimme. Diese leichte, kaum hörbare Schwingung der menschlichen Stimme ist Beweis für ihre Vitalität und Lockerheit. In allen Lagen muss diese Funktion ausgeglichen vorkommen und ist damit gleichzeitig ein Beweis für eine gute Atemtechnik. Sowohl Vibrato als auch non vibrato sind Funktionen, die es zu beherrschen gilt und die in verschiedenen Musikstilen unterschiedlich eingesetzt werden. Der Unterschied zwischen der polyphonen Musik des 15. Jahrhunderts, einer virtuosen Arie des 18. Jahrhunderts, einer Belcanto Arie oder einer Opernarie des Verismus ist sehr groß und soll doch von den Studierenden der heutigen Zeit unterschieden und stilistisch sicher beherrscht werden. Das hat in großem Maße auch mit der gelernten Vibrato-Funktion zu tun.

  6. Ausgleich der Sprechfunktion mit der Singfunktion
    Neben den wohl produzierten Klängen ist eine gut ausgebildete Sprechfunktion das zweitwichtigste Element eines jeden klassischen Sängers. Sprache ermöglicht uns klare Aussagen zu formulieren, die wiederum mit Hilfe von gut ausgesprochenen Wörtern den Zustand der Person oder der Situation erläutern. Im täglichen Leben, aber auch auf der Bühne stellt sie den Großteil der Kommunikation dar. Und im Unterschied zur Sprache des Körpers (z.B. Pantomime) gibt sie uns die Möglichkeit, viele Informationen in kürzester Zeit zu verbreiten. Nur mit ihrer Hilfe sind die Kunstsänger im Stande, Dialoge zu führen und sich in die Dramaturgie der gesungenen Texte zu vertiefen. Es reicht nicht, wenn die Studierenden die Texte gut vortragen, sie sollen sich auch deren Bedeutung bewusst sein. Erst dann wird aus einem guten Sänger ein wahrer Darsteller.

    Darum soll jede gesungene Sprache verstanden und an deren Aussprache gefeilt werden. Es wird im heutigen Theaterwesen erwartet, dass die jungen Sänger mehrere Fremdsprachen beherrschen und die auf der Bühne gesungenen Sprachen perfekt aussprechen. Diese Erwartungen haben mir schon des Öfteren gezeigt, dass nicht nur die gut ausgebildete Stimme, sondern auch freier und lockerer Umgang mit der gerade geforderten Sprache die Voraussetzung einer guten Karriere sind. Die Bühnensprache soll also immer gut zu verstehen sein, aber nur solange es die Lage der gesungenen Werke zulässt. Denn zu deutlich geformte Sprache, vor allem im Passaggio und in der Höhe, kann zu Verengung der Ansatzräume führen, aber auch erheblichen Einfluss auf den Klang der Stimme (Timbre) haben. Daher versuche ich, bei den Studierenden eine bühnentaugliche Sprache zu entwickeln, die mit den klar ausgesprochenen Vokalen eine Symbiose darstellt. Die Tonhöhe und deren Einfluss auf die Form des Vokals spielt dabei immer eine entscheidende Rolle.

  7. Individualität eines Sängers und deren Bedeutung
    Die menschliche Stimme ist Teil eines jeden Menschen und das beste Instrumentarium, um Emotionen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. So wie es unterschiedliche Menschentypen wie Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker gibt, so gibt es entsprechend unterschiedliche Stimmtypen. Wir haben helle, dunkle, kräftige, schwache, warme oder kühlere Stimmen, die fast immer zu den Persönlichkeiten ihrer Besitzer passen. Man sagt, dass nur glückliche Kinder singen. Ich glaube, das stimmt. Die Stimme ist ein Lautsprecher der Seele. Die Persönlichkeit äußert sich in der individuellen Tongebung. Diese wiederum macht einen Sänger unverwechselbar. Um erfolgreich mit den Studierenden arbeiten zu können, sollte der Lehrer nicht nur auf die Stimme achtgeben, sondern auch die Persönlichkeit beobachten und beide in Einklang bringen. Ein Konflikt von Stimme und Persönlichkeit führt zu Misserfolg.

  8. Aufbau der stilistischen Aussagekraft
    Nachdem die Studierenden gelernt haben, mit der Stimme umzugehen und die Grundlagen der Gesangstechnik beherrschen, sollte der Lehrer nun mehr auf die stilistische Perfektion achten. Gut ausgeführte Verzierungen, eine breite Palette der Dynamik und Klangfarben, sichere Artikulation und gekonntes Einsetzen der Vibrato-Funktion stellen für mich den Unterschied zwischen einem guten und einem professionellen Sänger dar. Ich versuche, ein möglichst breites Spektrum im Verlauf des Studiums abzudecken - natürlich nach den Möglichkeiten des jeweiligen Studenten. Wenn man nicht viel ausprobiert, wird man auch nicht erfahren, welche die größten Stärken eines jungen Sängers sind. Die Biegsamkeit einer Stimme und deren Farbe wird auch Einfluss auf eine eventuelle Spezialisierung haben. Gut ausgeführte Triller, sinnvolle Kadenzen und im Stil der Arien gesungene Verzierungen sollten in der gesungenen Musik zu finden sein. Dies alles betrachte ich als sehr wichtig, wird aber nicht zum erwünschten Erfolg führen, sofern die Stimme unausgeglichen, unedel, scharf, im begrenzten Umfang oder mit schwacher Intonation erklingt.

  9. Aufbau der musikalisch-inhaltlichen Aussagekraft
    Von Beginn des Studiums an lege ich Wert auf die Einheit von stimmtechnischen und gestalterischen Fähigkeiten meiner StudentInnen. Abgesehen von einigen isoliert- technischen und mechanischen Übungen soll keine Kluft zwischen Stimmtechnik und musikalisch-szenischem Ausdruck entstehen. In jedem Werk, sei es Arie, Rezitativ, Ensemble oder Lied haben wir die Aufgabe, die künstlerische Aussage des betreffenden Stückes zu suchen, aufzuspüren und dann sängerisch umzusetzen. Dazu gilt es, die Phantasie der Studierenden anzuregen und zu fördern, sie zu ermutigen, nach dem „Sinn hinter dem Sinn“, dem Subtext eines Stückes zu suchen, und in Zusammenhang mit der musikalischen Umgebung des zu erarbeitenden Werkes zu stellen. Schon „vermeintlich einfache“ Übungen von Nikola Vaccai sollten mit musikalischer Geste und Sinn ausgeführt werden, bei anspruchsvollerer Literatur wird diese Aufgabe interessanter und herausfordernder. Dazu gehört auch das Zusammenwirken mit musikalischen Partnern am Klavier, im Orchester etc. Letztendlich steht die Beherrschung und Schönheit der Stimme im Dienst der künstlerischen Aussage.

  10. Professionelle Aufnahmen, Fotos und mediale Präsenz
    Seit mehreren Jahren spielen professionell produzierte Aufnahmen der Studierenden eine immer wichtigere Rolle. Es gibt kaum noch Wettbewerbe, Festivals und Meisterkurse, zu denen sich die jungen KünstlerInnen ohne digitale Vorrunde anmelden können. Daher versuche ich schon im Bachelorstudium mit den ersten, durch einen Tonmeister betreuten, Aufnahmen zu beginnen. Jeder, der schon selbst CDs oder DVDs aufgenommen hat, weiß, welche Präzision und Zuverlässigkeit der Tongebung in dieser Arbeitsform erwartet wird. Je früher man sich mit dieser speziellen Arbeitsform auseinandersetzt, desto schneller wird man dieser Aufgabe gewachsen sein. Auch gute, kunstvolle Portraits sind für eine erfolgreiche Bewerbung unverzichtbar. Ich gehöre zu der Generation, die nicht mit Sozialen Medien groß geworden ist. Diese digitale Welt birgt Gefahren, bietet aber auch große Möglichkeiten, die für die Karriere nützlich sein können. Wie aktiv die Studierenden diese Plattformen nutzen, hängt jedoch von ihrer persönlichen Einstellung zu dieser Thematik ab. Eine erfolgreiche Karriere basiert aber vor allem auf den künstlerischen Qualitäten der SängerInnen und nicht unbedingt auf ihrer medialen Präsenz.

Resümee

In der beschriebenen Darstellung meines Konzeptes über die Ausbildung der Gesangsstudentinnen und Gesangsstudenten ist mir die Reihenfolge der genannten Schritte besonders wichtig. Wenn ich schon während des Studiums feststelle, dass der Student die Bühnenreife erreicht hat, stelle ich ihn einer der mir bekannten Agenturen vor. Die Agenten vertrauen auf mein Qualitätsurteil, schätzen die vertrauensvolle Zusammenarbeit und erleichtern gleichzeitig meinen Studierenden den Zugang zu Vorsingen an den Opernhäusern, und zu den Konzertveranstaltern. Durch meine langjährige und solide pädagogische Arbeit gelang es mir, viele sehr gute Sänger auszubilden und diese in das Berufsleben zu entsenden. Die Arbeit an den Details der Gesangstechnik, an der sicheren Stilistik und die Suche nach der fachgerechten Literatur bereitet mir große Freude und spornt mich an, mich weiterzubilden und das eigene Wissen zu vertiefen.

Marek Rzepka
Frankfurt am Main
Februar 2021